Ein Herzstück der Jesus-Botschaft
Text: Markusevangelium 6, 45–52 - Einheitsübersetzung neu
Gleich darauf drängte er seine Jünger, ins Boot zu steigen und ans andere Ufer nach Betsaida vorauszufahren. Er selbst wollte inzwischen die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sich von ihnen verabschiedet hatte, ging er auf einen Berg, um zu beten. Als es Abend wurde, war das Boot mitten auf dem See, er aber war allein an Land. Und er sah, wie sie sich beim Rudern abmühten, denn sie hatten Gegenwind. In der vierten Nachtwache kam er zu ihnen; er ging auf dem See, wollte aber an ihnen vorübergehen. Als sie ihn über den See gehen sahen, meinten sie, es sei ein Gespenst, und schrien auf. Alle sahen ihn und erschraken. Doch er begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Dann stieg er zu ihnen ins Boot und der Wind legte sich. Sie aber waren bestürzt und fassungslos. Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt.
Gottes Wort ist unseres Fußes Leuchte und Licht auf unserem Weg
Die Sprache der Bibel ist Bildersprache. Damit wir verstehen, was mit bestimmten Bildern gemeint ist, müssen sie gedeutet und in unser Leben übertragen, übersetzt werden.
Dazu ein Beispiel aus dem Matthäus-Evangelium: "Als er (= Jesus) in Jerusalem einzog, erbebte die ganze Stadt und man fragte: Wer ist dieser? Die Leute sagten: Das ist der Prophet Jesus von Nazaret in Galiläa." (Mt 21, 10f). Es fand nicht wirklich ein Erdbeben statt, sondern wie schon im Alten Testament steht das Bild "Erdbeben", "Erbeben" für Nähe, Gegenwart und Wirken Gottes. Im Deutschen sprechen wir vom bebenden Herzen und meinen damit, dass uns etwas sehr berührt. So sagte man in der Antike, dass die Erde sich bewegt, um damit auszudrücken, dass Gott nahe ist. Bei Matthäus bebt die Erde beim Einzug Jesu in Jerusalem, bei seinem Tod und bei seiner Auferstehung.
Auch die Erzählung in Mk 6, 45-52 ist voller Bilder und bildhafter Vergleiche. Wir versuchen im Folgenden sie zu deuten.
"Gleich darauf drängte er seine Jünger, ins Boot zu steigen und ans andere Ufer nach Betsaida vorauszufahren. Er selbst wollte inzwischen die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sich von ihnen verabschiedet hatte, ging er auf einen Berg, um zu beten."
Gleich darauf - gemeint ist nach der "Brotteilung und Austeilung", bei der alle satt wurden - schickt Jesus die Leute weg und verabschiedet sich von ihnen. Die Menschen sind von Jesus begeistert, sie feiern und umjubeln ihn. Zu ihrem König wollen sie ihn machen. Denn jetzt, denken sie, haben wir einen, der für uns sorgt und uns die alltäglichen Sorgen und die Mühen ums tägliche Brot abnimmt.
Jesus widersteht einerseits der Versuchung der Macht und des Ruhmes und klärt andererseits das Missverständnis der Leute auf. Ich bin nicht der, der euch das Schlaraffenland schafft, sondern ich zeige euch, miteinander so zu leben, dass alle "satt" werden.
Jesus zieht sich zurück auf einen "Berg", um zu beten. Auch der Berg ist ein Bild für Gottes Nähe. Jesus ist Mystiker. In der Stille, in stundenlanger mystischer Versenkung (Kontemplation) erfährt er die Nähe, Liebe und Kraft Gottes und das Einssein mit ihm. So wird Jesu Vertrauen in seinen Abba gestärkt.
"... er aber war allein an Land. Und er sah, wie sie sich beim Rudern abmühten, denn sie hatten Gegenwind."
So ist das Leben. Einmal fährt das Boot unseres Lebens durch ruhige Gewässer, alles läuft glatt und problemlos. Dann machen Widrigkeiten, große Sorgen und Nöte, Ängste und Traurigkeiten, Leid und Todesgefahren das "Rudern" mühsam und schwer. Jesus sieht und kennt die Wechselfälle unseres Lebens, fühlt sich in uns ein und versteht uns.
"In der vierten Nachtwache kam er zu ihnen; er ging auf dem See, wollte aber an ihnen vorübergehen."
Die vierte Nachtwache ist die Zeit zwischen drei Uhr früh und sechs Uhr morgens. Nacht, Finsternis, und Dunkelheit sind vorbei, der Tag, das Licht bricht an. Nacht, Finsternis und Dunkelheit sind keine Mächte,sie haben keine Quelle, wie der Schatten sind sie nichts. Sie sind bloß das Fehlen des Lichtes. Wenn uns bewusst wird, wenn wir vertrauen, dass Jesus in uns, dass er unsere Mitte ist, dass wir in ihm sind, wird es in unserer Seele licht und hell. Da leben Hoffnung und Lebensfreude auf.
Mit Gott eins, im Vertrauen auf die tiefe, innige Verbindung mit seinem Abba geht Jesus über den See. "See", "Meer" sind Bilder für alles Lebensbedrohliche, für die Abgründe, wo die Dämonen sind, die nicht leben lassen, einengen, festhalten, gefangennehmen. Mit Gott, in Gott und durch Gott können uns die dunklen Mächte, die sich als mächtig aufspielen, in Wahrheit aber keine Macht haben, nichts anhaben. Mit Gott gehen wir nie unter, gehen wir niemals verloren. Das lernen wir von Jesus.
"Als sie ihn über den See gehen sahen, meinten sie, es sei ein Gespenst, und schrien auf. Alle sahen ihn und erschraken. Doch er begann mit ihnen zu reden und sagte: Seid guten Mutes, ICH BIN; fürchtet euch nicht! Dann stieg er zu ihnen ins Boot und der Wind legte sich."
Bevor sie Jesus und seine Botschaft kennenlernen, haben die Jünger:innen Angst vor Gott. Jesus befreit sie davon, er nimmt ihnen die Angst. Er verkündet ihnen Gott als den, bei dem sie in ihren Existenz- und Todesängsten Zuflucht suchen können und Sicherheit und Schutz erfahren.
In dieser Erzählung überliefert der Verfasser des Markus-Evangeliums die Jesusworte: "Seid guten Mutes! ICH BIN. Fürchtet euch nicht!" Diese Worte halten wir für das Herzstück dieser Erzählung und ein Herzstück in der gesamten Gottesverkündigung des Alten und Neuen Testamentes überhaupt. 365 mal kommen in den Schriften des AT und NT diese Worte so oder so ähnlich vor: "Habt keine Angst! Fürchtet euch nicht! ICH BIN!" Das griechische "εγω ειμι" ( = ego e-imi) heißt wörtlich übersetzt nicht "ich bin es" auch nicht "ich bin da", sondern "ICH BIN".
"ICH BIN" ist der altestamentliche Gottesname Jahwe. Gott ist der "ICH BIN". "ICH BIN" ist ein anderer Name für Ewigkeit. Gott ist nicht in Zeit, nicht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sondern: Gott ist Ewigkeit.
Dieses Bild ist eine Graphik des Franziskaners Siegfried Grän aus München. Wir sehen ein Boot, das von Dunkelheit und Finsternis umgeben ist. Im Boot sitzen zwei Personen, die ihre Hände an die Ruder gelegt haben. Ein Kind, das von der Dunkelheit erfasst ist, und ein erwachsener Mann mit kräftigen Armen, von dem Licht ausgeht. Er leuchtet wie eine Lichtgestalt. Einen Arm hat er schützend um das Kind gelegt, sein Blick ist mütterlich und väterlich liebend auf das Kind gerichtet. Es sieht aus, dass der Mann dem Kind das Rudern beibringt. Der Blick des Mannes scheint dem Kind Mut und Selbstvertrauen zuzusprechen, so als wollte er sagen: Rudere nur, du kannst es! Und das Kind scheint dem Mann zu vertrauen. Es wirkt konzentriert, es ist bei der Sache und bemüht das Rudern zu lernen.
In diesem Kind im Boot erkennen wir uns selbst. Wie oft gleicht unser Leben einem mühsamen Rudern durch Dunkelheit und Nacht?! Und in dieser Lichtgestalt erkennen wir Gott, der in das Boot unseres Lebens gestiegen ist, seinen mütterlich liebenden Blick auf uns richtet und seine väterlich schützenden Arme um uns legt, der uns segnet und behütet, der sein menschenfreundliches Angesicht über uns leuchten lässt, der uns Mut und Selbstvertrauen schenkend sagt: Nehmt die Ruder eures Lebens in die Hand! Lebt! Geht getrost in eure Zukunft! Es kann euch nichts passieren auf dem Weg durch die Dunkelheiten, Nächte und Abgründe dieser Welt und dieser Zeit; denn ich, euer Gott, ICH BIN! Ihr braucht nicht allein zu rudern, denn ich, euer Gott, rudere mit euch. Mit mir gemeinsam werdet ihr niemals untergehen.