Gottes Pädagogik
Text: Matthäusevangelium 5, 17-26 - Einheitsübersetzung neu
17 Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. 19 Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. 20 Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. 21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. 22 Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. 23 Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe! 25 Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist! Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben und du wirst ins Gefängnis geworfen. 26 Amen, ich sage dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.
Texterläuterung
Der Ausdruck "das Gesetz und die Propheten" ist eine Bezeichnung für die Schriften des Alten Testamentes.
Das entsprechende griechische Wort für "aufheben" bedeutet: abschaffen, außer Kraft setzen, annullieren. Das entsprechende griechische Wort für "erfüllen" bedeutet: ausfüllen, anfüllen, zur Vollendung bringen, vollenden. Mit "das Gesetz erfüllen" ist gemeint "das Gesetz mit Liebe füllen". Gesetz dem Buchstaben und Paragrafen nach ist kalt, lieblos und tot. Jesus hat das Gesetz nicht abgeschafft, sondern es mit Liebe erfüllt.
Jesus stellt das "Amen" an den Beginn seiner Worte. Damit will er sagen: Was ich euch jetzt sage, das ist so, ganz unabhängig, ob ihr dem zustimmt oder nicht.
Das Jota ist der neunte Buchstabe des griechischen Alphabets und ist Ausdruck für kleinste Kleinigkeit. Das Häkchen oder Strichlein am Buchstaben ist Symbol für etwas Geringfügiges.
Wortgetreue Übersetzung: Wer also auflöst eines dieser Gebote der ganz unbedeutenden und lehrt so die Menschen, ein ganz Unbedeutender wird (er) genannt werden im Königtum der Himmel; wer aber tut und lehrt (sie), der ein Großer wird genannt werden im Königtum der Himmel. "Königtum der Himmel" ist ein anderer Name für Gott.
Wortgetreue Übersetzung: Wenn nicht im Überfluss vorhanden ist eure Gerechtigkeit mehr als (die) der Schriftgelehrten und Pharisäer, keinesfalls werdet ihr hineinkommen in das Königtum der Himmel. Die Schriftgelehrten und Pharisäer vertraten die alttestamentliche Gesetzesgerechtigkeit. Gesetzesgerechtigkeit in ihrem Sinn bedeutete: Richtig vor Gott ist die kleinlich bedachte Einhaltung der vielen Gesetzesbestimmungen, der zahlreichen Gebote und Verbote. Jesus brachte eine andere Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit der Liebe. Richtig vor Gott ist einzig und allein die Liebe.
2. Buch Mose 20, 13: Du sollst nicht morden. 5. Buch Mose 5, 17: Du sollst nicht morden. Jedes der zehn Gebote ist so zu lesen: Wenn du verstanden hast, wie unendlich groß die Liebe ist, mit der Gott dich liebt, und wenn du Gottes ewige Liebe annimmst, dann wirst du ... bzw. dann wirst du nicht ... .
Jesus sagt nicht wie die alttestamentlichen Propheten: "Spruch Jahwes" oder "So spricht der Herr", sondern sagt "Ich aber sage euch". Er nimmt damit göttliche Autorität für sich in Anspruch. Er gibt Gottes Willen als seinen eigenen aus und erläutert ihn. Jesus ist sich bewusst, außerordentliche Autorität, sozusagen "das letzte Wort" zu haben. Er weiß sich ganz eins mit Gott.
"Gericht" bedeutet hier nicht das große "Synedrion" (= der Hohe Rat) in Jerusalem, sondern das kleinere, aus 23 Mitgliedern bestehende Gericht, das in jedem größeren Ort bestand und sich oft mit den Synagogenvorständen deckte.
Jesus stellt nicht Mord und Zorn auf die gleiche Ebene, sondern weist darauf hin, dass nicht nur der Mord, sondern auch Zorn und gehässige Gesinnung gegen den Nächsten ("Du bist für mich gestorben!"), Zielverfehlungen sind, weil sie der Liebe entgegenstehen und den Mord erst ermöglichen.
Der Hohe Rat war das große, aus 70 Priestern und Laien bestehende Synedrion (= Sitzung) in Jerusalem, die höchste politische und gerichtliche Behörde des Judentums, die bald nach dem babylonischen Exil dem Hohenpriester, der geistliches und oft auch weltliches Oberhaupt war, zur Seite stand und unter seinem Vorsitz entschied, was sich die Römer nicht ausdrücklich vorbehalten hatten; Todesurteile mussten vom römischen Prokurator (= Statthalter) bestätigt werden.
Wortgetreue Übersetzung: verfallen wird er sein in die Gehenna des Feuers. Gehenna (vom hebräischen "ge-hinnom") ist der Name eines von den Propheten verfluchten, durch Götzendienst verunreinigten Tales südlich von Jerusalem (= das Hinnomtal), das im Spätjudentum den Ort der ewigen Strafe bezeichnete, die Hölle, wo jene weilen, die sich von Gott und seiner Liebe getrennt haben. Der hebräische Begriff "ge-hinnom" bedeutet wörtlich "Schlucht von Hinnom".
Gott bzw. Göttern Opfer darbringen kam in allen Religionen vor, auch im Judentum. Einzige Opferstätte des Judentums war der Tempel zu Jerusalem. Nur der Priester durfte an den Opferaltar treten und die vorgeschriebenen täglichen Opfer, aber auch die Gaben der Menschen darbringen, die ein privates Sühneopfer darbringen wollten: die Wohlhabenderen eine Ziege oder ein weibliches Schaf, Ärmere zwei Tauben, völlig Mittellose etwas Feinmehl, in jedem Fall genügte der entsprechende Geldwert. Wer sich mit Gott versöhnen will, muss es zuvor mit seinem Bruder tun. Denn Kult ohne entsprechende innere Gesinnung ist wertlos. Wie aber einer gegenüber dem unsichtbaren Gott gesonnen ist, muss sich zeigen in seinem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen.
Wortgetreue Übersetzung: bis du zurückgibst den letzten Kodrantes. Der Kodrantes (griechisches Wort; lateinisch: Quadrans) war eine römische Münze und zwar die kleinste römische Währungseinheit.
Gottes Wort ist Licht über unseren Pfaden
Zwei Kinder gehen in die Schule. Jedes hat seinen eigenen Lehrer. Die zwei Lehrer sind so verschieden, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Der eine Lehrer begegnet dem Schulkind mit Strenge, Härte und Ungeduld. Gehorsam und Ordnung, Leistung und Disziplin sind seine obersten Prinzipien. Er setzt das Schulkind ständig unter Zeit- und Leistungsdruck. Es soll in immer kürzerer Zeit immer noch größere Leistungen erbringen. Um es zum Lernen anzuspornen, droht er dem Schulkind schlechte Noten und das Sitzenbleiben an und verhängt Strafen. Nie lobt er das Schulkind, sondern nennt es häufig einen nichtsnutzigen Faulpelz. Das Kind geht jeden Tag widerwillig und mit großer Angst zur Schule. Es empfindet den Lehrer wie einen Gegner und Feind und hasst ihn. Der Lehrer macht das Schulkind ganz krank. Bis zum Ende der Schulzeit setzt sich in dem Schulkind die Überzeugung fest, zu allem zu dumm und nichts wert zu sein.
Der andere Lehrer geht auf sein Schulkind mit Freundlichkeit und Güte, mit Verständnis und Geduld zu. Immer hält er daran fest, dass das Schulkind hochbegabt ist, und er sieht seine Aufgabe darin, das Kind dabei zu fördern, dass alle seine Begabungen langsam wachsen und sich entwickeln können. Nie setzt er das Schulkind unter Druck, sondern lässt ihm das Lerntempo selbst bestimmen und gibt ihm die Zeit, die es braucht, um etwas zu verstehen und zu begreifen. Er belastet das Schulkind nicht mit Noten, stattdessen schenkt er ihm viel Lob, Wertschätzung und Anerkennung. Dem Schulkind bereitet das Lernen großes Vergnügen. Es geht jeden Tag mit Freude zur Schule. In seinem Lehrer sieht es einen guten Freund. Am Ende der Schulzeit verlässt dieses Schulkind hochbegabt die Schule und hört sein Leben lang nicht auf, mit Begeisterung zu lernen und sich zu bilden und zu entfalten.
Der erste Lehrer hat viel gemeinsam mit den Schriftgelehrten und Pharisäern zu den Zeiten Jesu und mit den ihnen Gleichgesinnten bis heute. Jesus sagte einmal sinngemäß über sie: Sie setzen die Menschen unter Druck und bürden ihnen unerträgliche Lasten auf, indem sie von ihnen engherzig und stur, streng und ungeduldig, hart und ohne Rücksichtnahme jetzt und auf der Stelle die Einhaltung aller religiösen Gebote und Verbote verlangen.
Der zweite Lehrer hat viel gemeinsam mit dem Lehrer Jesus, und die Pädagogik des zweiten Lehrers viel gemeinsam mit der Pädagogik Gottes. Der Lehrer Jesus lehrt uns - seine Schülerinnen und Schüler - die Lernziele Gottes, all das, was wir lernen müssen, um an unser ewiges Ziel - die Fülle und Vollendung des Lebens - zu kommen. Er schenkt uns Zeit und Geduld, diese Ziele kennenzulernen, zu verstehen und leben zu lernen. Er lässt uns langsam lernen, wachsen, reifen und uns entfalten. Er droht uns nicht mit Strafen und bitteren Konsequenzen, sondern glaubt an uns, schenkt uns volles Vertrauen und seine bedingungslos bejahende Zuwendung. Er ist der Lehrer, der behutsam und achtsam, schonungsvoll und sanft, rücksichtsvoll und wertschätzend mit uns geht auf allen unseren Lernwegen. Um es mit einem alten biblischen Bildwort zu sagen: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.”
Der Lehrer Jesus hat uns in seiner großen Rede auf dem Berg - der sogenannten Bergpredigt - die Lernziele zur Kenntnis gebracht, die Gott uns steckt. Der Verfasser des Matthäusevangeliums überliefert sie uns in den Kapiteln 5 - 7.
Dieses Evangelium ist ein Teil der großen Rede Jesu auf dem Berg.