Kein Haar wird uns gekrümmt

Text: Lukasevangelium 21, 5-19 - Einheitsübersetzung neu

Als einige darüber sprachen, dass der Tempel mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus: Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleibt, der nicht niedergerissen wird. Sie fragten ihn: Meister, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll? Er antwortete: Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! Denn das muss als Erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort. Dann sagte er zu ihnen: Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Aber bevor das alles geschieht, wird man Hand an euch legen und euch verfolgen. Man wird euch den Synagogen und den Gefängnissen ausliefern, vor Könige und Statthalter bringen um meines Namens willen. Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können. Nehmt euch also zu Herzen, nicht schon im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern und manche von euch wird man töten. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.

Texterläuterung

Lukas schrieb sein Evangelium um das Jahr 85 n. Chr. Um diese Zeit gehörte die Zerstörung des Tempels von Jerusalem schon der Vergangenheit an. Denn im Jahr 70 n. Chr. hatten die Römer Jerusalem und seinen prachtvollen Tempel, den König Herodes der Große hatte erbauen lassen, dem Erdboden gleichgemacht. Lukas erzählt hier aus der Zeit Jesu von einer Begebenheit, in der Jesus die Zerstörung des Tempels vorausgesagt hat.

"Mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt": Die schönen Steine waren weißer Marmor. Weihegeschenke, vorwiegend Kostbarkeiten aus Edelmetall, wurden nicht nur von Juden und von Nichtjuden, die der jüdischen Religion beigetreten sind, sondern auch von Nichtjuden und sogar von Römern angenommen. Weihegeschenke wurden in den Tempelschatz gegeben.

Das religiöse Israel glaubte, dass mit dem Ende des Tempels von Jerusalem das Ende der Welt kommen werde. Daher fragten seine Gesprächspartner - es müssen Personen aus seinem Jüngerkreis gewesen sein, wie sich aus dem Weiteren ergibt - , als Jesus von der Zerstörung des Tempels sprach, ob irgendein Zeichen dieses Geschehen ankündigen würde. Jesus gab auf ihre Frage keine Antwort. Er sagte, dass immer wieder Menschen als Messias Gottes auftreten und im Namen Gottes das Ende der Welt voraussagen werden. "Ich bin es" - die wortgetreue Übersetzung heißt: "Ich bin" - ist eine Anspielung auf den alttestamentlichen Gottesnamen Jahwe. Jesus sprach seinen Gesprächspartnern Gelassenheit zu. Sie sollen auf diese selbsternannten Propheten nichts geben und sich von religiösen Schwärmern nicht Angst einjagen lassen.

"Die Zeit ist da": Das griechische Wort, das hier mit "Zeit" übersetzt ist, heißt "kairós". Das griechische kairós begegnet im Neuen Testament in folgenden Bedeutungen:
die Zeit allgemein, und zwar der Zeitpunkt sowie der Zeitabschnitt; die geeignete, rechte, günstige Zeit; die bestimmte, festgesetzte Zeit; die Endzeit, der Anbruch der Gottesherrschaft.

Jesus sagte seinen Jüngern, dass Kriege, Naturkatastrophen, Krankheiten, Verfolgungen, Leid und Not so, wie sie vor ihm und zu seiner Zeit gekommen sind, auch nach ihm kommen werden. Das MUSS so sein. Das hat seinen Sinn. Das heißt, das entspricht dem Plan Gottes.

Jesus versprach seinen Jüngern und Jüngerinnen nicht den Himmel auf Erden, sondern sagte ihnen unmissverständlich, dass ihnen Anfeindung, Hass und Gewalt entgegenschlagen werden. In Zeiten der Verfolgung haben sie - seine Nachfolger - in besonderer Weise Möglichkeit, seine Zeugen in der Welt zu sein. Und Jesus versprach ihnen seine Nähe und seinen Beistand.

Gottes Wort ist Licht über unseren Pfaden

„Kein Haar wird euch gekrümmt werden”, wörtlich: „Ein Haar von eurem Kopf wird gewiss nicht verloren gehen.” Das ist für uns der Kernsatz dieses Evangeliums. Dieser Satz ist nicht wortwörtlich, sondern in einem tieferen Sinn zu verstehen. Es handelt sich um eines der vielen Bildworte, die Jesus verwendet.

„Ein Haar von eurem Kopf wird gewiss nicht verloren gehen.” Mit diesem Urvertrauen und dieser Glaubensüberzeugung hat Jesus von Nazareth gelebt. Und diese Zusage und Gewissheit gibt er weiter an alle Geschöpfe, nicht nur an irgendwelche Auserwählte und nicht nur an die, die irgendwelche heilige Leistungen erbringen, sondern voraussetzungs- und bedingungslos an ALLE.

„Ein Haar von eurem Kopf wird gewiss nicht verloren gehen.” Dieses Evangelium, diese Gute Nachricht, schenkt Jesus allen ohne Ausnahme. Gott, den Jesus mit seinem Leben verkündet und offenbar macht und für den er mit seiner ganzen Person einsteht, hat von jedem seiner Geschöpfe ein einmaliges Bild, ein Bild von unvorstellbarer und unbeschreiblicher Schönheit, ein Bild der Ganzheit, ein Bild vollendeter Herrlichkeit. Dieses Bild trägt jedes Geschöpf Gottes in sich. Dieses Bild ist unantastbar und unzerstörbar. Dieses Bild bringt Gott unversehrt heim. Er bringt es mit Sicherheit ans ewige Ziel. Was auch immer einem Geschöpf Gottes geschieht, nichts an diesem Bild geht verloren, nichts und niemand kann es zugrunde richten.

In diesem Evangelium spricht Jesus von dunklen Seiten unserer Welt. Er spricht von Zerstörung und Vernichtung, von Kriegen und Unruhen, von Gewalt unter den Völkern, von Erdbeben, Seuchen und Hungersnöten, von Hass, Verfolgung und tödlicher Feindschaft unter Menschen bis hinein in die eigenen Familien. Die dunklen Seiten der Welt sind alles, was der ganzen Welt und allen Geschöpfen zu ihrer Vollendung noch fehlt. Die ganze Schöpfung und alle Geschöpfe befinden sich bis zu ihrer Vollendung in Entwicklungs-, Wachstums- und Reifungsprozessen. Diese Abläufe und Vorgänge sind für die ganze Schöpfung und für alle Geschöpfe schmerzhaft vergleichbar mit einer Geburt.

Als Mensch auf dieser Welt hat Jesus so wie alle Geschöpfe Gottes nicht nur die hellen, sondern auch die dunklen Seiten dieser Welt erfahren und schmerzvoll erlitten.

Warum Gott nicht von vornherein alles vollendet geschaffen hat, wissen wir nicht. Er allein weiß es. Jesus sagt, dass es so sein muss, wie es ist. Das bedeutet: Alles, was ist und geschieht in der Welt, ist nicht sinnloser Zufall, Laune und blindes Schicksal, sondern hat einen letzten großen Sinn. Darauf können wir uns verlassen. Diesen Sinn wird Gott uns offenbar machen, wann er es für richtig hält.

„Ein Haar von eurem Kopf wird gewiss nicht verloren gehen.” Diese Gute Nachricht hat uns Jesus geschenkt für unser Leben jetzt, nicht für irgendwann später. Wer diese Gute Nachricht jetzt annimmt und auf sie vertraut, erfährt durch sie Freude, Hoffnung, Befreiung von Angst, Ermutigung und Kraft - HIER und HEUTE.