Mit kindlicher Offenheit Gottes Geheimnis erahnen
Text: Matthäusevangelium 11, 25-30 - Einheitsübersetzung neu
In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.
Texterläuterung
"In jener Zeit": Das griechische Wort, das hier mit Zeit übersetzt wird, heißt "kairós" und bedeutet wörtlich: der richtige Augenblick, die rechte Zeit. Gott macht alles zum richtigen Zeitpunkt und lässt alles zur rechten Zeit geschehen. Gottes Timing ist perfekt. Was Jesus gesagt und getan hat, hat er alles gesagt und getan, als die Zeit dafür reif war.
Das griechische Wort für "verbergen" hat die wörtliche Bedeutung "verhüllen", "eine Decke darüber hüllen". Das griechische Wort für "offenbaren" bedeutet wörtlich "enthüllen", "die Decke wegziehen".
Das griechische Wort "népioi", das hier mit "die Unmündigen", übersetzt ist, bedeutet wörtlich "die Kinder", "die kindlich Unverbildeten", "Menschen, die sich das Wesen eines Kindes behalten haben".
"Joch" ist ein bildhafter Begriff aus dem Arbeitsleben. Zugtieren - zum Beispiel einem Ochsengespann - wurde früher ein Joch auf den Nacken gelegt, damit man sie vor einen Wagen oder Pflug spannen konnte, und damit sie gemeinsam in dieselbe Richtung zogen. Die jüdischen Schriftgelehrten sprachen vom "Joch des Gesetzes" und vom "Joch der Herrschaft des Himmels". Sie haben eine unterjochende Religion vermittelt, indem sie von allen Leuten die peinlich genaue und strenge Einhaltung von 613 religiösen Vorschriften verlangt haben (365 Verbote und 248 Gebote). Darum sagte Jesus über die Schriftgelehrten: "Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen." Wie hätten die normal Sterblichen im jüdischen Volk, die zum Großteil Analphabeten waren, alle diese Bestimmungen erlernen und einhalten sollen?! Das Joch Jesu ist das Leben nach dem Willen Gottes, das Leben in hingebender Liebe.
Unter dem Begriff "Seele" ist in der Bibel der ganze Mensch zu verstehen und nicht ein Teil von ihm.
Gottes Wort ist für uns wie Licht in der Nacht
Das ist unsere Überzeugung: Auch wenn wir alles, was über Gott gedacht und gesagt, über Gott geschrieben und mit Mitteln der Musik und Kunst über ihn zum Ausdruck gebracht wurde, bis in alle Einzelheiten wüssten und verstünden, würden wir dennoch das Wesen Gottes, seine Herrlichkeit und Schönheit, seine Größe und Weisheit, seine Güte und Freundlichkeit, seine wunderbaren Pläne und Entscheidungen in diesem Leben nicht erfassen. Denn Gott ist der ganz Andere. Das Geheimnis Gottes übersteigt unser Denk- und Vorstellungsvermögen unendlich. Wir hielten es für anmaßend, zu glauben, wir könnten Gott mit unserem Verstand, unserer Geistes- und Gedankenkraft erkennen.
Wir können uns dem Geheimnis Gottes vertrauend, ahnend und staunend nur nähern, indem wir uns ihm ganz öffnen, so wie eine Blüte sich zur Sonne wendet, sich ihr entgegenstreckt und sich ihr ganz auftut. Die Blüte macht nicht nur ein einziges Blütenblatt oder nur einige wenige Teile auf, sondern geht ganz auf.
Uns wahrhaft Gott zu öffnen umfasst uns ebenso ganz, den ganzen Menschen mit unserer ganzen Existenz, unserem ganzen Sein und Leben, mit Körper, Geist und Seele, mit Vernunft und Verstand, mit Gemüt und Gefühlen, mit Herz und allen Sinnen, mit unseren hellen und dunklen Seiten, mit unseren Mängeln und Beeinträchtigungen, mit unseren Grenzen und unserer Unvollkommenheit, einfach mit allem, was wir sind, und was zu uns gehört. Das alles beinhaltet der Begriff „das gläubige Herz”. Das gläubige Herz ist nicht ein Teil von uns, sondern meint uns ganz, unsere Ganzheit.
Das gläubige Herz ist zu vergleichen mit der Offenheit eines Kindes. Seine Denk- und geistige Erkenntnisfähigkeit ist noch nicht entwickelt, aber es erfasst, nimmt wahr, „sieht”, empfindet, spürt mit seiner ganzheitlichen und unverbildeten Offenheit, mit seiner kindlichen Einfachheit und Unbefangenheit, mit seinem ursprünglichen Urvertrauen und seiner spielerischen Freude. Meint Jesus unter anderem diese Offenheit der Kinder, wenn er uns sagt: „Ihr kommt in das Himmelreich, wenn ihr wie Kinder werdet”?
Wer sich Gott wie die Blüte der Sonne ganz auftut, erahnt etwas, erfährt etwas, spürt etwas von dem Geheimnis, das wir Gott, Himmel und Reich Gottes nennen, etwas von seinem Wesen, etwas von seiner Herrlichkeit und Schönheit, von seiner Größe und Weisheit, von seiner Güte und Freundlichkeit, von seinen wunderbaren Plänen und Entscheidungen.
Wer sich Jesus wie die Blüte den Sonnenstrahlen ganz auftut, findet zur Ruhe, die er uns in diesem Evangelium verspricht. Das Wort „Ruhe” bedeutet hier weit, weit mehr als Verschnauf- und Arbeitspause, weit, weit mehr als Urlaub und vorübergehendes Ausspannen. „Ruhe” steht hier für den inneren Zustand von Seelenruhe und Seelenfrieden, für „in unserer Mitte sein”, für „bei uns selber sein”, für „weg von aller inneren und äußeren Getriebenheit und Ruhelosigkeit”, für das Abwerfen allen unnötigen Ballastes und das Ablegen aller Lasten, die uns einengen, niederdrücken und uns das Leben schwer machen, für das Ende allen Suchens nach Sinn und Glück und für das Ankommen am Ziel vollkommener Freiheit und Gelöstheit, vollendeter Freude und Glückseligkeit, am Ziel uneingeschränkter Erfüllung unserer tiefsten Sehnsüchte und ewiger Beheimatung.