Liebe ist kein Gesetz

Text: Matthäusevangelium 22, 34-40 - Einheitsübersetzung neu

Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie am selben Ort zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Texterläuterung

Das religiöse Gesetz der Juden bestand aus 248 Geboten und 365 Verboten und dazu noch aus etwa 2000 weiteren Bestimmungen. Um sich diese Fülle von religösen Vorschriften einzuprägen, brauchte es ein gutes Gedächtnis und ein langes Studium. Die jüdischen Gesetzeslehrer (= die Schriftgelehrten) kannten die Weisungen des Gesetzes in alle Einzelheiten. In welchem Verhältnis die zahlreichen Gebote und Bestimmungen zueinander stehen, ob sie alle gleichwertig sind, ob es eine Mitte gibt, um die sich alle Gebote und Bestimmungen drehen, von der alle ausgehen und auf die alle hingeordnet sind, darüber wurde damals unter den Gesetzeslehrern viel gesprochen.

Die Pharisäer (hebräisches Wort, übersetzt: die Abgesonderten) waren eine religiöse, politisch aktive Bewegung im Judentum. Sie befolgten die Gebote und Verbote und Bestimmungen der jüdischen Religion auf Punkt und Komma. Sie waren überzeugt: Wer die religiösen Gesetze buchstabengetreu befolgt, ist vor Gott gerecht (richtig) und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Erlösung der Welt. Als Schriftgelehrte (Gesetzeslehrer) genossen die Pharisäer zur Zeit Jesu hohes Ansehen. Nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels (70 n. Chr.) wurden sie die maßgeblichen Träger der jüdischen Religion.>7P>

Die Sadduzäer (Anhänger der Lehre Zadoks) waren eine in Israel von ca. 150 v. Chr. bis zur Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. verbreitete Gruppe des Judentums. Sie herrschten über den Tempel und den Tempelkult. Die Sadduzäer waren die größte Kraft im Sanhedrin (= jüdischer Hoher Rat in der Zeit des Jüdischen Tempels) und stellten mehrmals den Hohenpriester. Die Sadduzäer gehörten größtenteils den höheren Gesellschaftsschichten an. Es handelte sich um Priestergeschlechter und Adelige. Sie glaubten - im Gegensatz zu den Pharisäern - nicht an die mündliche Überlieferung, sondern nur an die schriftlichen Gesetze des Mose. Sie glaubten auch nicht an Führung durch Gott, nicht an die Engel und auch nicht an die Auferstehung der Verstorbenen. Sie sahen im Tempeldienst den Schwerpunkt jüdisch-religiösen Lebens. Die Bewegung der Sadduzäer endete daher nahezu zeitgleich mit der Zerstörung des Tempels durch den römischen Kaiser Titus.

Jüdische Gesetzeslehrer (hebräisch: Rabbi; aramäisch [= Muttersprache Jesu]: Rabbuni; deutsch: Lehrer, Meister) waren darin ausgebildet, die religiösen Gebote, Verbote, Bestimmungen, Vorschriften (= das Gesetz des Moses; hebräisch: Tora) in rechter Weise auszulegen. Deshalb wurden sie auch Schriftgelehrte genannt. Sie waren keine Priester und hatten im jüdischen Gottesdienst keine besondere Aufgabe.

"wollte ihzn versuchen": Die Frage des Gesetzeslehrers an Jesus war eine Prüfungsfrage. Ob darin eine Fangfrage zu sehen ist, mit der er Jesus eine hinterhältige Falle stellen wollte, geht aus diesem Text nicht hervor. Die Pharisäer wollten sowohl ihrer Gegenpartei, den Sadduzäern, als auch und vor allem Jesus ihre Überlegenheit zeigen.

"welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?": Die genaue Übersetzung heißt: Lehrer, welches Gebot (ist) groß im Gesetz? Die Frage nach dem "großen Gebot im Gesetz bezieht sich nicht auf leichter oder schwerer erfüllbare Gebote, auch nicht auf mehr oder weniger bedeutsame Gebote, sondern auf ein alle Gebote umfassendes Gebot. Angesichts der Fülle der Gebote und Bestimmungen war die Frage nach dem "großen Gebot" nicht unwichtig.

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Die genauen Übersetzungen lauten: Du wirst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, ....; und: Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Jesus antwortet mit einem Schriftwort aus dem 5. Buch Mose (Dtn 6, 4-9: "Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben." Morgens und abends hat jeder religiöse Jude diese Worte gebetet. Es befindet sich auch in der Mesúsa, einer kleinen Kapsel am rechten Türpfosten, die beim Betreten oder Verlassen des Hauses mit der Hand berührt wird. Es steckt ferner in der Kapsel der Tefillín (= Gebetsriemen), die der fromme Jude an der Stirn und am linken Arm in Richtung des Herzens trägt. Es handelt sich um das "schemá Israél" - das "Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig." Andere Übersetzungsmöglichkeit: "Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein." Das "schemá Israél" ist tatsächlich das Zentrum der jüdischen Religion. Jesus zitiert hier noch eine zweite Stelle des Alten Testamentes: 3. Buch Mose (Lev 19, 18b: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Das "große Gebot", in dem alle Gebote zusammengefasst sind, sagt Jesus, sind Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe. Jesus stellt diese drei auf die gleiche Ebene. Ohne Liebe ist alles Halten der Gebote fruchtlos. Das Gebot der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe (alle drei gemeinsam bilden eine Einheit) ist kein Gebot neben den anderen, sondern das ganze Gesetz und die Propheten hängen an ihm wie an einem Haken oder wie die Tür in ihren Angeln. Die Liebe ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht.

Gottes Wort ist Liebesbotschaft an uns

Die Liebe ist das Größte, das Höchste, das Schönste, das Allerheiligste, weil sie das Wesen Gottes ist. Deshalb, und weil ihr Name so oft nicht ihrer Bedeutung entsprechend verwendet wurde und wird, vermeiden wir aus Ehrfurcht vor ihr nach Möglichkeit, das Wort „Liebe” auszusprechen. Wir umschreiben sie als bejahende Zuwendung, als Hingabe, als Annehmen, als sich Verschenken, als Gnade.

Liebe kann nicht per Gesetz verordnet werden. Sie kann nicht befohlen werden. Denn sie ist ein vollkommen freier, freiwilliger, frei gewählter Akt. Sie ist ein nicht einklagbares Geschenk.

Liebe hat in Gott ihren Ursprung und ihr Ziel. Sie strömt aus Gott heraus seiner ganzen Schöpfung, jedem einzelnen Geschöpf zu. Sie schafft, erhält und vollendet alles Sein und alles Leben. Gottes Liebe ist nicht Lohn und Abgeltung für Verdienste. Sie stellt nicht Bedingungen. Sie setzt keine Fristen. Sie zieht sich nie zurück. Sie fließt in unermesslichem Maß. Sie durchflutet alles. Sie ist in jedem Atom und in jeder Zelle. Sie ist die größte Heilkraft.

Die Liebe Gottes ist, wie Paulus in seinem 1. Brief an die Christinnen und Christen von Korinth ihr Wesen beschreibt: „Sie hat Geduld; sie erweist sich gütig; sie ist nicht mit Neid erfüllt; sie tut nicht groß; sie verhält sich nicht aufgeblasen, hochmütig und überheblich; sie handelt nicht unanständig; sie sucht nicht ihren Vorteil; sie lässt sich nicht zum Zorn reizen; sie rechnet das Böse nicht an; sie freut sich nicht über das Unrecht; sie freut sich aber mit an der Wahrheit; alles hält sie aus und behält sie für sich; alles glaubt sie, alles hofft sie, alles übersteht sie; sie hört niemals auf; nun aber bleibt bestehen Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe.”

Gottes Liebe schafft die Grundvoraussetzung, dass wir uns selber lieben, uns selber bejahen, uns selber in unserer Ganzheit annehmen und gut zu uns selber sein können. Unsere Selbstliebe wiederum ist die entscheidende Voraussetzung für die Nächstenliebe. Nur wer sich selbst bejahen und annehmen kann, kann auch andere bejahen und annehmen. Nur wer zu sich selber warmherzig, gütig, geduldig und sanft sein kann, kann es auch zu anderen sein. Nur wer mit sich selber in Einheit und Frieden leben kann, kann es auch mit anderen.

Das Evangelium Jesu ist weder Moral noch Gesetz. Jesus spricht nicht in einem fordernden „du sollst” und „du musst”, sondern in einem vertrauensvollen „du wirst”.

Auch die Jesusworte „du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken; das ist das wichtigste und erste Gebot; ebenso wichtig ist das zweite: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” lauten im Originaltext „du wirst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken; das ist das wichtigste und erste Gebot; ebenso wichtig ist das zweite: du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst”.

Das „du wirst” hat zweifache Bedeutung. Einerseits ist damit gemeint: Mensch, wenn du nur ein wenig erfasst hast, dass dir ein unermesslicher göttlicher Gnadenstrom zufließt, dass du von Gott grenzenlos bejaht und angenommen bist, dann wirst du weitergeben, was du empfängst: dir selber und anderen. Andererseits bedeutet es: Du wirst lernen, was dir Gott unverdient schenkt, weiter zu schenken: dir selber und anderen.